Annäherung an den Dom

Die Straßen und Gassen winden sich durch die Mainzer Innenstadt wie Schlangen. Eine von ihnen ist die Schusterstraße, sie schlängelt sich direkt zum Mainzer Dom. Er, ein lachsroter Riese, thront über ihr, schaut auf sie herab und wirft dominant seinen Schatten. Und doch gerät dabei der Dom selbst in den Schatten der Straße. Denn die Schusterstraße konkurriert mit dem spirituellen Wahrzeichen der Stadt und schiebt ihn in den Hintergrund: Sie ist auch eine Art Tempel unter freiem Himmel - wo Konsum ein meist verehrter Gott ist.
Mehrstimmig und bunt brodelt es im Inneren dieses Tempels. Abgedämpfte Bässe schallen aus den Boutiquen und geben den vorbei klackenden Absätzen Tempo allegro an. Huschende Passanten hinterlassen in der Luft ihre Gesprächsfetzen - so dass es wie im Bienenstock summt. Hier überdeckt eine raue Männerstimme - "Mahlzeit!" - das helle Kinderlachen, dort ertönt schrilles "Schau mal, billige Schuhe!"
Die Polyphonie der Stimmen harmoniert auf eine seltsame Weise mit der Hektik, dem Trubel, dem Straßenlärm. Selbst ein wuscheliger Hund eilt mit festem Blick einem jungen Paar hinterher. Er schnuppert nicht einmal an der Luft, in der sich das abgebrannte Öl der Imbissbuden mit dem Duft eines Parfumladens duelliert. Bald schon wird einer der Läden Hund und Herrchen verschlingen. Das giftige Orange der Rabattanzeigen schreit an dessen Schaufenstern nach neuen Kunden. Auch jedes einzelne Haus scheint mit seinem weit aufgerissenen Eingang zu rufen: "Kauf hier ein!", "Iss hier!", "Kommt alle rein!"
So - eingeklemmt zwischen den stillosen hungrigen Bauten - windet sich die Schusterstraße weiter zum Dom. Endlich mündet sie auf einen Marktplatz, direkt vor den Füßen des steinernen Riesen. Unter den Füßen fühlt sich der Pflasterstein warm - der strahlenden Maisonne sei dank. Dazwischen: plötzliche, kräftige Windstöße. Der Wind, der sich in der Schusterstraße erstickt zu haben schien, zaust hier frech die Haare und bringt leichten Flußgeruch mit. Selbst die Fußgänger gehen hier anders: sie schreiten statt zu hetzen. Es ist, als sei der in den Himmel ragende Dom ihnen für einige Minuten eine Zuflucht vom Alltag. In ihr Stimmenecho fließen der flüsternde Wasserbrunnen und Vogelgeschwätz hinein. Selbst schwere Hammerschläge von einer nahe liegenden Baustelle verlieren ihre Härte. Der Glockenton, vollstimmig und mächtig, ertönt. "Die monumentale Wirklung des Sakralbaus", wie an der Domtafel geschrieben steht, ist in diesem Moment zu spüren. Der Dom hat seinen Konkurrenten für einen Augenblick besiegt - bis man von der nächsten hungrigen Schlange verschlungen wird.
laura_schoen - 23. Jul, 00:39